Tagesspiegelartikel
2019
Tanzkurs für Krebskranke Wo jeder Tänzer und niemand Patient ist
In Berlin gibt es Deutschlands einzigen Paartanzkurs für Menschen mit Krebs. Teilnehmer lernen hier viel mehr als bloß Walzer, Cha-Cha-Cha und Foxtrott.
Silvia Perdoni

Tanzlehrer Tobias Wozniak und die Teilnehmer eines Tanzkurses für krebskranke Menschen.Foto: Kitty Kleist-Heinrich
Unter der Krankheit leidet als erstes die Beziehung. Das bisschen Energie, das die Behandlung lässt und das die Angst nicht auffrisst, geht an die Kinder. Der Partner fällt hinten runter. So hat
es zumindest die junge Frau erlebt, die an diesem Mittwoch über ihre Krebsdiagnose spricht, während ihr ab und zu ein
Lichtkegel über das Gesicht wandert. Sie sitzt neben einer Tanzfläche, auf der Paare einen Wiegeschritt üben.
In der ersten Tanzstunde habe ihr Freund ihr nur auf den Füßen gestanden, sagt sie. „Es tat gut, zusammen darüber zu lachen. Das ist lange her.“ Seit ein paar Monaten kommt das Paar nun jede Woche
in den Tanzkurs für Krebskranke am Hansaplatz nahe des Tiergartens.
Hier, in einem von der St. Laurentius-Kirche zur Verfügung gestellten Saal, vergessen sie für knapp zwei Stunden die vergangenen Monate. Den Knoten in der Brust, das Bangen und den Arzt, der die
schlimmste Befürchtung wahrmachte. Die Übelkeit, die Erschöpfung und die Einstichstelle in der Haut, durch die eine Kanüle das Medikament für die Chemotherapie pumpte. Die Sorge um einen Rückfall.
Und auch das Wissen, dass jedes Leben endlich ist.
Hier, wo Frauen mit Knochenkrebs neben Männern mit Darmkrebs tanzen, ist niemand Patient und niemand Angehöriger. Hier stehen sich Menschen gegenüber, die zusammen etwas Neues lernen.
Anders als etwa Joggen oder Schwimmen beansprucht Tanzen Experten zufolge Körper und Kopf. Grundschritte und Figuren, Führen und Folgen – da braucht es Konzentration. Obwohl Tanzen erwiesenermaßen
helfen kann, Ängste zu verarbeiten und Ärzte etwa in Psychiatrien und Rehazentren seit den 40er Jahren Tanztherapien anbieten, bewegen sich Kranke dort fast immer allein. Die Paartanzkurse in Berlin
sind einmalig in ganz Deutschland. Hier wird zu zweit getanzt: Walzer, Cha-Cha-Cha und Foxtrott wie in jeder Tanzschule.
Beim Tanzen muss man vertrauen
Der Krebs habe ihr das Vertrauen in die Welt genommen, sagt die junge Frau, die ihren Namen nicht in der Zeitung lesen will, weil nicht alle ihre Kollegen von der Krankheit wissen. „Aber beim
Tanzen muss man vertrauen.“ Viele Betroffene berichten, dass die Krankheit ihnen das Gefühl gibt, sich nicht mehr auf den eigenen Körper verlassen zu können. Deswegen empfehlen Ärzte heute Bewegung,
wo sie früher Ruhe verordnet hätten.
„Außerdem schafft Tanzen körperliche Nähe, an die sich viele Patienten wieder gewöhnen wollen“, sagt die junge Frau. „Die Medikamente, die Ärzte oft nach einer Chemotherapie verschreiben,
bewirken nämlich, dass Intimität als unangenehm empfunden wird.“ Eine Seniorin, die wie die junge Frau gerade eine Verschnaufpause neben der Tanzfläche macht, erzählt, sie sei schon oft aus der
U-Bahn wieder ausgestiegen, weil sie die Enge im Waggon nicht ertragen habe.
Über das Parkett schieben sich gerade etwa 40 Tänzer. Eheleute über 70 sind darunter und ein Mädchen Ende 20, das mit ihrer Mutter tanzt. Freundinnenpaare ziehen ihre Kreise genau wie Frauen, die
die Schritte allein üben. Bei den meisten liegt die Krebsbehandlung schon einige Zeit zurück, manchmal Jahre, wenige raffen sich aber auch inmitten der Therapie zum Kurs auf. Wer an Krebs erkrankt
und wer als Tanzpartner hier ist, fragt Tobias Wozniak nie.
Der 32-Jährige leitet den Kurs, er ist einer der besten Profitänzer Deutschlands. Statt mit Anweisungen unterrichtet er mit Humor. „Vor-Seit-Schluss und eine Vierteldrehung – so, als würdet Ihr
ein schönes Stück Sahnetorte abschneiden“, ruft er durch den Raum. Die Stimmung ist heiter, Tobias Wozniak will Leichtigkeit vermitteln.
Bekannte haben Berührungsängste
Als vor zwei Jahren eine Onkologin auf ihn zukam und fragte, ob er einen Kurs für Krebspatienten geben wolle, wusste er nichts über die Krankheit. „Das klingt doof, aber einer meiner ersten
Gedanken war: Was, wenn ich mich anstecke?“ Mittlerweile gibt Wozniak jede Woche drei Kurse am Hansaplatz, für Anfänger und Fortgeschrittene. Im Juli ist ein weiterer in Lichtenberg dazugekommen.
Die Krebsstiftung Perspektiven unterstützt das Projekt finanziell, für Teilnehmer sind die Tanzstunden kostenlos. Die Onkologin – Jutta Hübner vom Uniklinikum Jena – begleitet die Kurse mit einer
Studie. Sie will erforschen, wie sich durch das Tanzen etwa Lebensqualität und Ausdauer der Kranken verändern. Hübner und Wozniak halten zudem Tanzworkshops für Krebspatienten in ganz Deutschland
ab.
Die Berührungsängste, die Tobias Wozniak am Anfang hatte, erlebt er heute bei seinen Freunden. „Eigentlich würde ich denken, dass sich Bekannte für meine Arbeit interessieren müssten, dass sie
dazu Fragen haben müssten“, sagt er. „Aber niemand fragt. Niemand will über Krebs nachdenken, er macht den Leuten Angst. Obwohl Ärzte die Krankheit heute oft heilen oder zumindest aufhalten können,
verbinden viele Menschen mit ihr noch immer nur den Tod.“
Und doch, trotz des Fortschritts: Auch am Hansaplatz lässt sich das Gespenst vom Tod dann und wann blicken. „Manchmal kommen Leute zum Kurs, die schlecht aussehen“, sagt Barbara Müller. Auch sie
hat sich gerade an den Rand gesetzt. Die 70-Jährige spricht langsam. Ihr Kiefer ist etwas verrenkt, nachdem Ärzte ihr drei Karzinome aus dem Mund entfernten. „Wir sind hier alle nicht mehr ganz
beisammen“, sagt sie entschuldigend und lacht. Das verbinde, einerseits.
Der Kurs gibt den Tänzern Mut
Auf der anderen Seite konfrontieren sich die Tänzer gegenseitig mit der Krankheit. Sie fühlen mit, wenn die Haare ausfallen, sich andere angestrengt den Schweiß von der Stirn tupfen und befürchten
einen Rückfall, wenn jemand plötzlich den Stunden fernbleibt.
Und sie begleiten sich. Da war die alte Dame, die vom Krebs gezeichnet nicht mehr tanzen konnte, aber trotzdem jede Woche zum Hansaplatz fuhr, um am Rand zu sitzen und mit dem Fuß zu wippen. Oder
die Frau, die unregelmäßig kam, mal mit Haaren und mal ohne. Auch wenn die Kursstunden am Mittwoch für viele eine willkommene Auszeit bedeuten, nehmen die Tänzer Notiz voneinander. Wer die Krankheit
aus seinem Leben verbannen will, kommt eher nicht her.
„Aber immer wieder nimmt man viel Mut aus dem Kurs mit, das überwiegt“, sagt Tänzerin Christine Hensgen. „Etwa, wenn jemand nach langer Pause zurückkommt und fit aussieht, obwohl die Chancen
schlecht standen.“ Die 46-Jährige hat im Winter den Brustkrebs überwunden,
will aber nicht von Heilung sprechen. „Krebs ist nie endgültig vorbei, Krebs hat man“, sagt sie. Für sie sei es deshalb wichtig, offen mit der Krankheit umzugehen. Und da gehöre das Tanzen definitiv
dazu.
Habt ihr Lust auf ein Workshop-Wochenende mit Vorträgen und Tanztraining?
Dann seid dabei!
Was heißt das genau und worum geht es in dem Workshop?
Was ist Krebs? Welche modernen Therapien gibt es? Was kann man gegen
Nebenwirkungen tun? Wie geht gesunde Ernährung und Naturheilkunde? Warum ist körperliche Aktivität gesund?
Für wen ist das Workshop-Wochenende geeignet bzw. das Richtige?
Für alle mit Spaß an Bewegung. Der Workshop ist auch für Menschen mit verminderter körperlicher Belastbarkeit geeignet. Für alle, die mehr über die Krankheit Krebs wissen wollen und wie man damit
leben kann. Wer einen Partner mitbringen kann ist ebenso willkommen, wie einzelne Personen.
Krebs ist eine der häufigsten Erkrankungen in Deutschland
Eine Krebserkrankung bedeutet eine hohe Belastung für Patienten und ihre Angehörigen. Die Tumorerkrankung und die Therapie gehen mit vielfältigen Einschränkungen für das tägliche Leben einher. Sie
beziehen sich auf körperliche, seelische, geistige und soziale Bereiche. Aber es gibt auch viele positive Entwicklungen. Heute ist Krebs oft heilbar oder zumindest kann sein Wachstum gebremst, seine
Ausdehnung verringert werden. Den
Krebs zu bremsen bedeutet, dass diese Menschen mit ihrer Krebserkrankung leben können. Dabei geht es um den Gewinn von Lebenszeit aber auch Lebensqualität. Selbst wenn die Krebserkrankung
fortschreitet oder gerade dann ist Lebensqualität ganz besonders wichtig. In den Vorträgen wollen wir über die modernen Möglichkeiten der Therapie aber auch über unterstützende Maßnahmen
berichten.
Und beim Thema Lebensqualität und Teilhabe am Leben kommt der Tanz ins Spiel. Im Jahr 2016 haben wir, Jutta Hübner und Tobias Wozniak, in Berlin ein Tanzprojekt für Patienten und ihre Partner
begonnen.
Tanz spricht den ganzen Menschen an und im Tanz spricht der ganze Mensch. Tanz verbindet Körper, Seele und Geist. Tanz kann helfen, den Umgang mit der Krankheit zu verändern und zwar für Patienten
und Angehörige. Tanz ist Tobias' Leidenschaft, von der er Patienten etwas geben möchte.
Interesse? Hier findet ihr alle organisatorischen Informationen.